- Festivalkritik
- Handlung
Eine Filmkritik von Joachim Kurz
Auch Massenmörder haben schöne Gärten
Am Anfang ist tiefste Schwärze auf der Leinwand zu sehen, dazu ertönt eine sich ständig wiederholende, von Streichern eingespielte Akkordfolge (für den bedrohlich abstrakten Score zeichnet erneut Mica Levi, eine der großen Innovatorinnen der Filmmusik verantwortlich, die mit nur wenigen Filmen ihren ganz eigenen und unverkennbaren Stil gefunden und weiter verfeinert hat) an der Grenze zur völligen Abstraktion. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit, mischt sich Vogelgezwitscher dazu (ebenfalls meisterhaft das Sounddesign von Johnnie Burns), bevor der Film das undurchdringliche und bedrohliche Dunkel durch Bilder von sommerlicher Helligkeit (Kamera: Łukasz Żal) ablöst: Wir sehen eine Familie mit Kindern und Freunden an einem idyllisch gelegenen Badesee, die Frisuren und die Kleidung, die sie tragen, verorten den Film in den 1930er bis 1940er Jahren, aber noch gibt es keinen Hinweis, um wen es sich hier handelt.
Dies allerdings wird schnell klar, als die Familie mit Anhang in ihr hübsches und großzügiges Haus zurückkehrt und wieder die Rollen eingenommen werden, die ihr Alltagsleben bestimmen: Der Mann und Familienvater ist Rudolf Höß (mit eiskalter Präzision gespielt von Christian Friedel), der berüchtigte Kommandant und Begründer des KZ Auschwitz-Birkenau und einer der „Architekten“ der sogenannten Endlösung, die Frau an seiner Seite ist seine Gattin Hedwig (gleichfalls brillant: Sandra Hüller), die sich später einmal Freundinnen gegenüber als „Königin von Auschwitz“ bezeichnen wird, insgesamt hatte das Paar fünf gemeinsame Kinder.
Umgeben von einem Stab von dienstbaren Geistern („keine Juden, sondern Leute aus dem Dorf“, wie Hedwig eines Tages stolz ihrer auf einen Besuch gekommen Mutter mitteilen wird), hat sich die Familie ein kleines Paradies aufgebaut, was hinter den Mauern des benachbarten Lagers vor sich geht und das tägliche Geschäft des Vaters ist – die Organisation eines millionenfachen Massenmordes –, dringt kaum in die spießbürgerliche Familienidylle ein. Obwohl die Schreie der gequälten Menschen auf der anderen Seite, das Gebrüll der Wachmannschaften, die Rauchsäulen der im Dauerbetrieb laufenden Krematorien, die herumfliegende Asche, die sich in der Nase festsetzt und herausgerotzt werden muss und das Blut an den Stiefel des Hausherrn unübersehbare Indizien des Grauens sind, um das jeder weiß und über das jeder schweigt.
Der Ort, der für unzählige Menschen die Hölle auf Erden war, ist für Hedwig Höß das Paradies auf Erden – als ihr Mann nach Berlin versetzt werden soll, tut sie alles dafür, dass dies nicht geschieht oder sie zumindest weiterhin mit ihren Kindern in dem Haus leben kann, das sie wie einen Hofstaat mit harter Hand regiert. Als ihre Mutter eines Tages unversehens abreist, weil sie das Nebeneinander von Idylle und Massenvernichtung nicht mehr aushält, vernichtet Hedwig deren handgeschriebene Notiz mit sichtbarer Wut, weil in diese unerbittlich offenlegt, wie unerträglich dieses Leben, das sie führt und dabei genießt, letztendlich ist.
Jonathan Glazers ausgeklügelte, überwiegend völlig starre Einstellungen, die eher Tableaus gleichen und die eigentlich immer auf denkbar größter Distanz zu den Figuren bleiben, sodass deren Mimik häufig nur schwer zu erkennen ist, als könne und wolle der Regisseur seinen Personen nicht in die Augen schauen, sind von bestechender und technokratischer Kühle. Sie deuten oftmals nur an, setzen erdrückende Rahmungen, wenn das Mittagessen der Familie durch einen Türrahmen hindurch gefilmt wird. So kalt und distanziert wie die Bilder sind auch die Emotionen, die hier fast immer unter Kontrolle gehalten werden.
Die Geburtstagsfeier des Lagerkommandanten ist von fast gespenstischer Beherrschtheit, wie überhaupt vieles an dem Film geisterhaft und gespenstisch erscheint, wie etwa die invertierten Einschübe, die mutmaßlich eine Bedienstete des Haushalts dabei zeigt, wie sie nachts im Lager Essen für die Gefangenen in der Erde verbuddelt. Diese Szenen und die kurzen dokumentarischen Einschübe zum Schluss des Films, in denen wir reale Bedienstete der Gedenkstätte des KZs beim Reinigen der Räume und der Schaukästen sehen, hinter denen sich die Schuhe der Getöteten befinden, sind die einzigen Perspektivwechsel, die The Zone of Interest sich und dem Publikum erlaubt.
The Zone of Interest, im Wettbewerb von Cannes überwiegend mit euphorischen Kritiken aufgenommen und ad hoc zu einem der großen Favoriten auf die Goldene Palme avanciert, erinnert als diametrales Gegenteil an einen anderen Film, der vor einigen Jahren im Wettbewerb von Cannes zu sehen war und der damals heftige Kontroversen auslöste: László Nemes’ Son of Saul spielte ausschließlich hinter den Mauern eben jenen KZs, um das es auch in The Zone of Interest geht. So wie der ungarische Regisseur konsequent die Perspektive eines Juden einnahm, der als Mitglied eines Sonderkommandos die Gaskammern räumte und dem Publikum durch diese bedingungslose Nähe keine Möglichkeit des Entkommens ließ, geht auch Glazer vor — mit dem Unterschied, dass er den Blick hinter die Mauern verweigert und sich ausschließlich auf den ganz normalen Alltag einer fast normalen deutschen Familie in dieser Zeit konzentriert.
Fast unwillkürlich drängt sich hier die Frage auf, ob es überhaupt möglich ist, einen Film über den Holocaust zu machen, der ausschließlich aus der Täter*innenperspektive operiert und in dem kein einziges Opfer zu sehen ist. Sehr wahrscheinlich ist genau dies aber Glazers irritierende Absicht: Dem häufig gehörten Diktum mancher Zeitzeug*innen, ihrem „Wir haben ja nichts gewusst“ setzt er eine unerhörte Vision des Verdrängens und Negierens entgegen, der kühl berechnenden, detailversessenen Taxierung, wie man möglichst kosteneffizient tötet und mordet – und mittendrin ein Familienidyll, das die Schrecken, die der Vater maßgeblich mitgestaltet, buchstäblich aussperrt hinter eine Mauer im Garten, hinter der die Krematorien im Dauerbetrieb laufen.
Gesehen beim Cannes Filmfestival 2023
Eine Geschichte über das Alltagsleben einer deutschen Familie, die während des Krieges in der Nähe des deutschen Konzentrationslagers Auschwitz lebte.
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Meinungen
Ute · 10.05.2024
Ausgezeichneter Film.
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Katrin · 16.04.2024
Boah, froh dass der Film aus ist. Es bleiben so viele Fragen: warum ist der Hund so schlecht erzogen, warum sitzt die Tochter nachts immer auf einem Stuhl auf dem Flur, warum kotzt Höß in den Flur, was soll das verstrahlte Mädchen mit den Äpfeln???? Schade um die vergeudete Zeit.
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Sabbirah · 18.04.2024
Das Mädchen hat geschlafwandelt, Höß kotzt (wahrscheinlich) weil er eben unbewusst selbst das Grauen spürt und es im Unterbewusstsein ihn zerfrisst. Oder aber, er ist einfach krank. Das „verstrahlte“ Mädchen war eine Negativaufnahme. Es handelte sich um ein polnisches Mädchen, das heimlich Äpfel für die Gefangenen versteckt hat, die dort am nächsten Tag wieder arbeiten mussten.
Bei dem Film ging es darum, bei all den Belanglosigkeiten akustisch das Grauen wahrzunehmen. Schade, dass all das scheinbar völlig an dir vorbeigegangen zu sein scheint. Schau besser Chantal im Märchenland.
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Sylvia · 24.03.2024
Das war der beste Film, den ich je gesehen habe aber auch ein Film, der schwer auszuhalten war. Gerade deshalb ist er so gut. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, den Atem anhalten zu müssen. Im Kino war es total still, niemand hat geknistert oder gehustet. Viele brauchten am Ende erst mal Zeit, das zu verdauen. Großartig gemachter Film.
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Andrea Zumbeel · 23.03.2024
Gähnend langweilig, grausame Musik, kein Tiefgang kein gar Nichts , Zeitverschwendung
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Mia · 20.03.2024
Selten habe ich einen solch schlechten Film gesehen! Auch wenn man Vorstellungskraft hat.....wirre Zusammenhänge ohne Tiefgang.
Diskussionen um bessere Vernichtungs-
methoden waren wohl noch die einzigen
interessanten und zugleich erschreckenden Szenen. Grosses Erstaunen, dass nicht auch Filmkritiker das so sahen!!!!!
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Thomas · 18.03.2024
Das war mit Abstand der schlechteste Film, den ich je gesehen habe.
Big Brother im 2. Weltkrieg.
Die Musik war grausam.
Hatten die Darsteller eigentlich ein Drehbuch.
Eigentlich ist es eine Frechheit, so einen Film in die Kinos zu lassen.
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Albert · 21.04.2024
Ging mir genauso.
Für mich eine sinnlose Aneinanderreihung von sich nicht erklärenden Szenen.
Auf einer Skala von 1 bis 10 (wobei 1 absolut mies und 10 absolut fabelhaft bedeutet) erhält der Film von mir maximal 3 Punkte.
Der Film war das Geld einfach nicht wert.
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Martin Zopick · 03.03.2024
Man muss sich zwingen den Film auszuhalten!
Diesen Titel hat Regisseur Glazer wörtlich von der Romanvorlage von Martin Amis übernommen und der erinnert an Putins Formulierung einer ‘Spezialoperation‘ für seinen Überfall auf die Ukraine.
Der Film trifft mit seinem Ambiente, eine von einer Mauer umgebene Villa, der Diktion der Akteure, in der ihre Einsamkeit und innere Kälte offenbar werden. Das Ehepaar Höss z.B.: Rudolf (Christian Friedel) und Hedwig (Sandra Hüller) schläft in zwei getrennt stehenden Betten, und der Lacher ihres Gesprächs ist ein abwechselndes, schweinisches Grunzen. Kindisch!
Die ganze Atmo enthält viele subtile Andeutungen: Rauch, roter Horizont, Schwieger/Mutter (Imogen Kogge) verlässt ohne Kommentar das Glückliche Heim und getopft wird der Plot durch minutenlange dunkle Leinwand oder ganz in schwarz oder rot. Das wird unterlegt mit gelegentlichen Schüssen oder Schreien, die man auch überhören könnte, nicht aber das sirenenartige Geheule dazu, das einer akustischen Folter gleichkommt.
Das Drehbuch des Regisseurs vernachlässigt auch keineswegs die Tatsache, dass es sich hier für die Herrschenden äußerst komfortabel leben lässt. Auch wenn die Kinder im Fluss Überreste von menschlichen Knochen finden oder mit Goldprothesen im Bett spielen. Ehefrau Hedwig posiert im Pelzmantel und schminkt sich – nur für kurze Zeit.
Die subtilen Andeutungen sind nur für die, die sie sehen wollen. Das Entscheidende an Glazers Geniestreich ist aber der intermediale Austausch zwischen dem Plot auf der Leinwand, also dem was man sieht und der Möglichkeit der direkten, qualvollen Einflussnahme, dem was man hören muss – und das tut weh…Da kann man nicht wegsehen oder weghören. Selbst wenn man die Augen schließt und sich die Ohren zuhält.
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Andrea · 10.03.2024
Besser kann man es nicht ausdrücken. Sehr gut. Ich fand den Film manchmal etwas lang.
Interessant fand ich , dass er fast komplett in der Totale gefilmt wurde, das schafft Distanz zu den Figuren. Leider sieht man dadurch die Gesichter nicht gut. - Ein Film mit Nachwirkung.
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Sandra · 30.01.2024
Danke
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